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Lehrerteams brauchen einen Chef

Interview Rosmarie Widmer Gysel, Vorsteherin des Erziehungsdepartements

Schaffhauser Nachrichten, 02.12.2010 von Interview: Norbert Neininger

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Anfang April wechselt die bisherige Erziehungsdirektorin Rosmarie Widmer Gysel ins Finanzdepartement. In einem Interview zieht sie Bilanz.

Nach fünf Jahren verlassen Sie das Erziehungsdepartement. Tun Sie das fluchtartig?

Rosmarie Widmer Gysel: Nein, ich flüchte nicht. Mein Wechsel zu den Finanzen hat andere Gründe: Das Finanzdepartement wird frei, weil Heinz Albicker ja auf Ende März zurücktritt, ausserdem steht auch Erhard Meister nicht mehr zur Verfügung.

Aber es kommt ja ein Neuer.

Widmer Gysel: Schon als ich in den Regierungsrat gewählt wurde, war klar, dass die Departemente nach dem Anciennitätsprinzip aufgeteilt werden. Das Finanzdepartement, das ja ein sozusagen übergeordnetes Departement ist, wird in der Regel von einem bisherigen Regierungsrat geführt. Im Übrigen kommt ja nun mit Christian Amsler auch ein Kollege ins Gremium, der sich in Schulfragen bestens auskennt.

Ihr grösstes Projekt, das neue Schulgesetz, ist in der Volksabstimmung gescheitert.

Widmer Gysel: Das war schmerzhaft, ja. Aber ich betone, dass ich mit Leib und Seele Erziehungsdirektorin war und diese Niederlage gut verdaut habe. Das sieht man schon daran, dass ich die Neuauflage mit Volldampf vorbereite.

Blicken wir zurück: Was waren die Gründe für das Debakel?

Widmer Gysel: Das Schulgesetz erlitt das Schicksal vieler umfassender Vorlagen, da findet letztlich jeder etwas, was ihm nicht passt. Und so gibt's dann eine Nein-Mehrheit.

Es gab keine genaue Untersuchung der Gründe?

Widmer Gysel: Natürlich haben wir eine Analyse gemacht.

Und die ergab?

Widmer Gysel: Ganz sicher war einer der Hauptgründe die geplante Einführung der verpflichtenden Schulkreise. Sehen Sie, ich hatte sofort nach der Abstimmung eine demoskopische Umfrage angeregt, um die Gründe genau zu erfahren. Dafür fand ich keine Mehrheit im Regierungsrat. Ich lud dann stattdessen je eine Gruppe der Gegner und der Befürworter in den Staatskeller zur «Chropfleerete» ein, das war lehrreich.

Was wird denn in der Neuauflage anders sein?

Widmer Gysel: Wir werden an den Grundsätzen - geleitete Schule, integrativer Unterricht - festhalten. Auch die Zusammenarbeit der Gemeinden wird wieder ein Thema sein, angeregt übrigens seitens der Grossgruppenkonferenz.

Und wann kommt das Schulgesetz erneut zur Abstimmung?

Widmer Gysel: Der Regierungsrat wird die Vorlage zur Teilrevision Ende dieses Jahres vor den Kantonsrat bringen, dann folgen die Vernehmlassung und die Abstimmung.

Nun prescht die Stadt mit der Vorlage für geleitete Schulen vor, über die wir am 7. März abstimmen werden. Hätte man das nicht besser koordinieren können?

Widmer Gysel: Die Stadt wollte - wenn ich das richtig sehe - nicht auf uns warten, weil sie schon drei geleitete Schulen hat. Sie braucht nun einen Volksentscheid, um das fortsetzen zu können.

Nun steht ja keineswegs fest, dass dieser Vorlage zugestimmt wird, es gibt - nicht nur in der Lehrerschaft - massiven Widerstand. Würde ein Nein der Stadt auch bedeuten, dass Sie die Schulgesetzvorlage anpassen und auf geleitete Schulen verzichten?

Widmer Gysel: Natürlich hätte ein Nein der Stadt Auswirkungen. Ich selber bin aber überzeugt, dass es Schulleitungen braucht und nicht Schulen mit Vorstehern, die eigentlich gar keine Zeit für Leitungsaufgaben, besonders aber keine Führungskompetenzen haben.

Und wenn man diesen Vorstehern, die ja mitten im Schulbetrieb stehen, mehr Zeit und Mittel zur Verfügung stellte?

Widmer Gysel: Das ist dann einfach zu wenig professionell; es braucht meiner Meinung nach Chefs der Lehrerteams, die ja oft aus Einzelkämpfern bestehen.

Sollten die Lehrer nicht eigenverantwortlich handeln können?

Widmer Gysel: In Fragen des Unterrichts ist das selbstverständlich so. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass gerade Lehrer einen Chef brauchen; es braucht jemanden, der das Team als verantwortlicher Chef führt und unterstützt. Die Basisdemokratie funktioniert in der Schule nicht mehr, es braucht Professionalität bei der Organisation der Schulen, bei der Koordination von Lehr- und unterstützenden Kräften. Und letztlich haben die Lehrer auch einen Anspruch darauf, dass sie professionell geführt und qualifiziert werden. Doch ich möchte diese Debatte nicht stellvertretend für die Stadtregierung bestreiten. Nun sollen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger entscheiden, und dann sehen wir weiter.

Blicken wir auf Ihren Einzug in die Regierung, das war 2005, zurück. Sie kamen aus der Privatwirtschaft und übernahmen, wie gesagt, das Erziehungsdepartement. Was hat Sie am meisten überrascht?

Widmer Gysel: Ich war vor allem «wonderfitzig». Und habe dann über diese andere, in sich geschlossene Welt der Schule gestaunt. Für mich bisher selbstverständliche Dinge waren plötzlich nicht mehr selbstverständlich.

Zum Beispiel?

Widmer Gysel: Nehmen wir als Beispiel den Umgang mit Projekten. Als ich ins Erziehungsdepartement kam, gab es Projekte sonder Zahl, sie hatten zwar einen Anfang, aber kaum je ein Ende. Und es gab noch mehr Konzepte, von denen niemand wirklich wusste, welchen Stellenwert und welche Wirkung sie hatten. Das habe ich dann schnell geändert, die übliche Systematik eingeführt, und jetzt werden aus Konzepten innert nützlicher Frist Projekte, und diese werden dann terminiert, mit Zwischenzielen versehen und abgeschlossen.

Verstanden die Lehrer denn überhaupt Ihre Sprache?

Widmer Gysel: Anfänglich nicht, es kam auch zu Reibereien. Ich erinnere mich, dass ich einmal, es war vor Kantonsschullehrern, von «Time to Market» redete, will heissen, von der Zeit bis zur Umsetzung einer Idee respektive bis zum Abschluss eines Projektes. Das kam nicht bei allen gut an.

Nun waren Ihre Hauptgesprächspartner ja Lehrer, und die haben vehement gegen das Schulgesetz opponiert. Hat sich Ihr Lehrerbild durch Ihre Tätigkeit verändert?

Widmer Gysel: Nun, ich hatte ein unscharfes Lehrerbild und auch nur eine vage Vorstellung von der Schule.

Es lag aber der Bildungsbericht 2003 Ihres Vorgängers vor.

Widmer Gysel: Ja, aber das war eigentlich kein Bericht über den Zustand der Schule und der Bildung, sondern eine Übersicht über die laufenden und geplanten Entwicklungen.

Zurück zur Lehrerpersönlichkeit, wie Sie sie kennenlernten.

Widmer Gysel: Nun, zuerst eine Banalität: Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Lehrern. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Sie sind alle sehr engagiert. Und sie sehen sich heute mit einer grossen Zahl von Problemen und Ansprüchen konfrontiert, viele leiden darunter.

Und manchen passen Ihre Ideen auch nicht.

Widmer Gysel: Das auch, ja. Es gibt Lehrer, die stemmen sich gegen die Entwicklung. Aber sie tun dies, da bin ich überzeugt, nicht aus Eigennutz.

Man hört nun allenthalben, dass der Lehrerberuf anspruchsvoller geworden sei. Geht es denn letztlich, wenigstens in der Volksschule, nicht einfach darum, den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen?

Widmer Gysel: Nein. Die Schule hat längst vermehrt Erziehungsaufgaben zu übernehmen.

Wofür eigentlich die Familie zuständig wäre.

Widmer Gysel: Theoretisch schon, ja. Praktisch aber muss die Schule den Kindern die selbstverständlichsten Dinge beibringen. Es gibt Kinder, die waren noch nie auf einem Waldspaziergang, andere können keinen Purzelbaum schlagen, wieder andere wissen nicht, wie man eine Schere handhabt. Es gibt Kinder, die sich falsch ernähren, die nie Sport treiben. Oft fehlen Kindern auch die selbstverständlichen Regeln des Anstandes und des Zusammenlebens. Da muss die Schule eingreifen, sie muss im Sinne der Kinder handeln.

Offenbar überfordert die sogenannte integrative Schulform manchen Lehrer.

Widmer Gysel: Ja, es ist schwierig, Kinder mit höchst unterschiedlicher Begabung und auch solche mit regelrechten Defiziten in einer Klasse zu vereinen. Aber da wird Unterstützung angeboten, es gibt Heilpädagogen, Logopäden und auch Sozialarbeiter.

Gab es früher nicht.

Widmer Gysel: Nein, aber es gab die Hilfsschule und dann später viele Sonderklassen, wohin die schwächeren Schüler abgeschoben wurden. Der Schul- und vor allem der spätere Le- benserfolg solcher Kinder, die heute integrativ geschult statt ausgesondert werden, ist erwiesenermassen besser, und das ist es doch, was am Schluss zählt.

Fassen wir also zusammen: Die Ansprüche an die Lehrer steigen, weil sie vermehrt zu Erziehern werden und die integrative Schule sie darüber hinaus fordert.

Widmer Gysel: Wenn das nur alles wäre! Gleichzeitig erhöhen wir die Anforderungen an die Schüler, sie sollen beispielsweise vermehrt Fremdsprachen lernen. Dazu kommen die Ansprüche der verschiedensten Interessengruppen, es vergeht kein Monat, ohne dass ich - von verschiedensten durchaus bedeutenden Organisationen - Wünsche für eine Änderung des Lehrplanes bekomme. Und schliesslich haben wir auch das Problem der fremdsprachigen Kinder - es gibt Klassen, wo diese mehr als die Hälfte ausmachen. Auch das ist für die Lehrpersonen schwer zu bewältigen. Aber lassen Sie mich noch eines anfügen: Von den rund 8500 Kindern, die unsere Schulen besuchen, tun die weitaus meisten das ohne Probleme.

Sie engagieren sich auch im Projekt HarmoS, das ja in Ihrer Partei, der SVP, nicht gerade bejubelt wird.

Widmer Gysel: Das ist milde ausgedrückt. Es geht dort einfach darum, ... ... dass man in der Schweiz mit schulpflichtigen Kindern umziehen kann, ohne dass diese Kinder Klassen wiederholen müssen oder ganz anderen Lehrplänen begegnen.

Ist das nicht eine Gefährdung unserer föderalistischen Strukturen?

Widmer Gysel: Im Abwägen zwischen Föderalismus und Angleichung habe ich mich fürs Zweite entschieden. Aus den erwähnten Gründen.

Zum ED gehört ja neben der Schule auch die Berufsbildung. Sind die Probleme dort ebenso gross?

Widmer Gysel: Nein. 95 Prozent der jungen Menschen machen heute eine Berufslehre oder besuchen eine weiterführende Schule. Es versteht sich von selbst, dass wir uns besonders der restlichen fünf Prozent annehmen. Das tun wir in Zusammenarbeit mit Organisationen wie Benevol und der Zündschnur.

Sie haben mehrfach betont, dass die Kantonsschule ihren Lehrplan vermehrt auf die technisch-naturwissenschaftlichen Fächer ausrichten sollte.

Widmer Gysel: Ja. Daran wird gearbeitet.

Sie waren ja auch für die Kulturpolitik verantwortlich, das scheint weniger spektakulär zu sein.

Widmer Gysel: Nun, es gab da keine Probleme, wir sind gut unterwegs - und das ist für mich natürlich höchst erfreulich.

Es ist wohl richtig, anlässlich eines Departementswechsels Rechenschaft abzulegen.

Widmer Gysel: Nur zu.

Also: Welche Ziele haben Sie erreicht, Frau Regierungsrätin?

Widmer Gysel: Ich hinterlasse meinem Nachfolger einen wohlgeordneten und gut strukturierten Laden; nach fünf Jahren intensiver Zusammenarbeit sprechen wir im Departement jetzt dieselbe Sprache und haben uns auf ein höheres Tempo und einheitliche Abläufe einigen können. Die Neuauflage des Schulgesetzes, das dann hoffentlich angenommen wird, ist eingeleitet. Der Kontakt mit der Lehrerschaft war intensiv und nicht ohne Konflikte, aber wir sprachen die Probleme offen an.

Und was haben Sie nicht erreicht?

Widmer Gysel: Nun, ich habe das Schulgesetz im ersten Anlauf nicht durch die Volksabstimmung gebracht und damit auch viele meiner darin enthaltenen Anliegen nicht verwirklichen können. Aber ich habe natürlich auch Abstimmungen gewonnen.

Nun werden Sie Finanzdirektorin. Werden Sie es da Ihrem Nachfolger nachsehen, wenn auch er die Kosten im Erziehungsdepartement nicht senken kann, sondern anheben muss?

Widmer Gysel: Höre ich da einen Vorwurf? Ja, es stimmt: Die Kosten sind unter meiner Amtstätigkeit gestiegen, weil die Anforderungen gestiegen sind und die Aufgaben ausgeweitet wurden. Sollte es so weitergehen, wird auch Christian Amsler nicht sparen können. Aber wir sind uns alle wohl bewusst, dass die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, abnehmen werden und dass wir alle sehr sorgfältig überlegen müssen, wie wir damit umgehen.

Da wir nun so viel über die Schule geredet haben, jetzt die letzte Frage: Welche Note würden Sie sich denn selber geben?

Widmer Gysel: Ich gebe mir selber keine Note. Aber ich halte fest, dass es mir sehr schwer fällt, dieses Departement, seine Mitarbeiter und - ja - auch dieses schöne Büro hier mitten in der Stadt zu verlassen.

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