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Erziehung ist kein Kinderspiel

schaffhauser az, 10.01.2009 von Praxedis Kaspar

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Wer aufgeweckte und gesund entwickelte Buben und Mädchen im Kindergarten und später in der Schule willkommen heissen will, muss die Eltern in ihrer Erziehungsarbeit stärken und unterstützen. Darüber, wie das geschehen kann, haben Erziehungsfachleute laut nachgedacht.

Wenn Integres zur jährlichen Fachtagung ruft, ist der Saal im Kronenhof voll. Auch dieses Jahr sind sie gekommen, die vielen Frauen mittleren Alters und die wenigen Männer, die mit kleinen Kindern, Elternschaft und Erziehungsarbeit beruflich etwas am Hut haben. Als Referenten angesagt waren Regierungsrätin und Erziehungsdirektorin Rosmarie Widmer Gysel, der aus Schaffhausen stammende Erziehungswissenschaftler Urs Moser von der Universität Zürich sowie Mütterberaterin Rosa Plattner aus St. Gallen. Susanne Mey und Bushra Buff-Kazmi aus Schaffhausen vertraten die Vernetzungsgruppe frühe Förderung und berichteten von deren Erfahrungen mit der Elternarbeit. Kurt Zubler, Leiter der Fachstelle Integres, leitete die Tagung.
Eins, sagte Erziehungsdirektorin Rosmarie Widmer Gysel, ist allen klar: Die Kindheit, so, wie sie die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Geborenen erlebten, diese Kindheit gibt es nicht mehr. Heutige Junge wachsen in einer Gesellschaft auf, die sich in wenigen Jahrzehnten grundsätzlich verändert hat, die Eltern der Gegenwart erziehen ihre Kinder folglich unter ganz anderen Bedingungen. Rosmarie Widmer Gysel erlebt in ihrer Arbeit zwei Arten von Familien: Kinder aus bildungsnahen Schichten werden sehr stark gefördert, es mangelt ihnen an nichts. Sie wachsen heran zu jenen jungen Leuten, die später in der Pisa-Studie internationale Bestwerte erzielen und der Schweiz noch immer das Gefühl erlauben, mit an der Spitze zu sein. Allerdings stehen solche Kinder meist auch unter starkem Leistungsdruck - durchaus nicht nur in der Schule, sondern auch im Elternhaus, das sie förmlich zudeckt mit Kursen und privaten Förderstunden aller Art.

`In solchen Fällen`, sagte die Regierungsrätin, `braucht nicht mehr das Kind die Eltern, wie dies eigentlich normal wäre, sondern die Eltern brauchen das Kind.` Für solche Mütter und Väter lohnte es sich im Interesse ihrer Kinder, darüber nachzudenken, wie man das Kind selbst mit seinem Lern- und Entwicklungstempo in den Mittelpunkt stellen könnte. Ganz anders die Eltern aus bildungsfernen Bevölkerungsgruppen, seien es nun Schweizer oder Migrantenfamilien. Die Forschung zeigt eindeutig die Benachteiligung von Kindern aus solchen Familien. Daraus erwächst für den Staat die Notwendigkeit, die Eltern zu stärken. Frühe Förderung durch das Elternhaus und das familienergänzende Umfeld sei ausgesprochen wichtig, sagte Widmer, müsse aber der Entwicklung des Kindes angemessen sein. Dass auch der Staat in seiner Bildungsarbeit sich an dieser Erkenntnis orientieren muss, versteht sich. Der Kanton Schaffhausen bekennt sich in seinem aktuellen Legislaturprogramm zu einer `kohärenten, klar definierten Jugend- und Familienpolitik`, ein Grundlagenpapier ist derzeit in Arbeit. Es wird auch konkrete Massnahmen zur Stärkung der Eltern bei der Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben beinhalten. Im Vordergrund soll laut Regierungsrätin Widmer Gysel ein Projekt zur Förderung von Kindern im Vorschulalter sein, das erst noch gestaltet werden muss.

Ein Leben lang benachteiligt
Gespannte Aufmerksamkeit fand auch der Vortrag des aus Schaffhausen stammenden Erziehungswissenschaftlers Urs Moser zum Thema `Frühe Förderung, ein Kinderspiel?` Es ist wissenschaftlich be legt, dass Kinder heute sehr unterschiedlich entwickelt sind, wenn sie in die Schule eintreten. Erwiesen ist auch, dass ein grosser Teil der Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit über ungenügende sprachliche und mathematische Fähigkeiten verfügt, was zu Problemen in der Berufsbildung führt und sich als lebenslanges Manko auswirkt.

Was also tun in einer Gesellschaft, in der nicht nur die Väter, sondern auch über 81 Prozent der Mütter in irgendeiner Form ausser Haus arbeiten - weil sie es so wollen und immer öfter auch, weil das Gehalt des Vaters zum Leben nicht ausreicht. Erschreckend zu hören vor diesem Hintergrund: Der Anteil an Risikoschülern - wie die OECD Jugendliche mit ungenügender Grundbildung nennt - ist in der Schweiz signifikant höher als in andern OECD-Ländern. Während also immer mehr schlecht ausgebildete Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt erscheinen, sinkt auch in der Schweiz das Stellenangebot für wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Dass in dieser Entwicklung Sprengkraft liegt, mochte der Referent nicht verhehlen.

Nicht ganz einfach
Dennoch, einfache Rezepte taugen nichts im Bildungsbereich. Eins aber ist belegt: Förderung muss in den ersten Lebensjahren geschehen, und es lohnt sich für die ganze Gesellschaft, Familien mit kleinen Kindern zu stützen. Migrantenkinder bringen zwar gleich gute Anlagen wie alle andern mit, leben aber oft in bildungsfernen Familien, die schwierig anzusprechen sind. Frühe Förderung kann auch aus diesem Grund nicht der privaten Initiative allein überlassen werden: Der Staat muss Rahmenbedingungen schaffen und Massnahmen erarbeiten. Auch wenn die positiven Auswirkungen von familienergänzenden Betreuungsangeboten empirisch noch nicht nachgewiesen werden konnten - laut Moser zeigen zahlreiche Studien, dass ein hohes Mass an unbeaufsichtigter Zeit das Risiko für Depressionen, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie für schulischen Misserfolg massiv erhöht.

Die Art und Weise, wie Kinder ihre Freizeit nutzen, ist also für den Schulerfolg von zentraler Bedeutung. Dass es dabei weniger darauf ankommt, ob die eigenen Eltern, private Betreuungspersonen oder öffentliche Einrichtungen sich um die Kinder kümmern, machte der Fachmann ebenfalls deutlich: Massgebend ist allein die Qualität der Betreuung. Ein wichtiger Platz in der frühen Förderung gebührt der sprachlichen Entwicklung. Der Wissenschaftler sagt es so: `Erfolgreiche frühe Förderung verlangt, dass Kinder mit Migrationshintergrund sozusagen ab Geburt die Möglichkeit erhalten, die Zweitsprache Deutsch in natürlichen sozialen Kontexten zu erlernen.` Weil der Staat aber erst ab dem vierten Lebensjahr zuständig ist, kann frühe Bildung nicht einfach verordnet werden.

Ein Projekt des Kantons Basel-Stadt zeigt aber, wie frühe Förderung funktionieren kann: Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen besuchen ein Jahr vor dem Eintritt in den Kindergarten eine Spielgruppe oder ein Tagesheim mit integrierter Sprachförderung. Die Integrationsfachstelle der Region Schaffhausen möchte sich die positiven Erfahrungen der Basler zunutze machen und ein ähnliches Projekt in die Wege leiten. Abschliessend bedauerte der Referent, dass so komplexe Fragen wie Elternschaft und Erziehung in der Schweiz noch immer ideologisch diskutiert werden - siehe Harmos.

Ein Konzept muss her
Aus der praktischen Arbeit berichteten Susanne Mey und Bushra Buff-Kazmi, zwei Vertreterinnen der Schaffhauser Vernetzungsgruppe Frühe Förderung. Die Arbeitsgruppe ist mit Unterstützung kantonaler und privater Fachpersonen aus einer Initiative der Kindergärtnerinnen entstanden, die sich Sorgen machten um die mangelnde sprachliche Integration vieler Kinder. Nebst konkreten Förderprojekten, vor allem für Mütter und Kinder, hat die Strategiegruppe nun mittels einer aufwändigen Umfrage erforscht, ob die Bevölkerung Schaffhausens über die Angebote im Frühbereich informiert ist und wie sie diese nutzt.

Quintessenz der Umfrage, die zu zahlreichen erhellenden Kontakten mit Eltern, Betreuerinnen und anderen Fachpersonen geführt hat, ist der dringende Wunsch an Kanton und Stadt Schaffhausen nach einem Gesamtkonzept für die Frühe Förderung wie es beispielsweise in Winterthur bereits vorliegt. Dass es Geld, wesentlich mehr Geld braucht für Kinderkrippen, Spielgruppen und Sprachkurse, dass für die Gesellschaft aber nichts günstiger zu stehen kommt als gelungene Frühe Förderung und Elternhilfe, das ist eine weitere Schlussfolgerung der Tagungsteilnehmerinnen.

Quelle