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Eine zünftige Visite auf der Waag-Stube

Schaffhauser Nachrichten, 21.04.2009 von Robin Blanck

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Am Sechseläuten war Zunftmeister Hans-Peter Narr zu Gast bei der Zunft zur Waag. Die SN haben ihn begleitet und einen Blick in die Zürcher Zunftstube geworfen.

Mit einem gewaltigen Knall explodierte der Kopf des Böögg um 18.12 Uhr und 55 Sekunden: «Heiss ist es gewesen, aber auch wirklich sehr schön», sagte Hans-Peter Narr, Zunftmeister der Schaffhauser Zunft zun Webern, nach dem Umzug. Sicher ein Höhepunkt des Sechseläutens, doch für Narr, der ein Biedermeierkostüm trägt, ist es nur einer von vielen an diesem Tag. Den ersten erlebte er bereits kurz nach 9 Uhr im Turm der St.-Peter-Kirche, 67 Meter hoch über der Stadt: Dort wurden Weisswein und Schinkengipfeli gereicht, der Ort eine alte, exklusive Tradition der Zürcher Zunft zur Waag, die Narr zum Sechseläuten eingeladen hat. Zu geniessen gab es neben dem Apéro auch eine einmalige Aussicht über die Stadt, die sich für den grossen Tag festlich herausgeputzt hatte. Und natürlich traf man bereits dort alte Bekannte wieder; nicht umsonst sind die Zürcher Waag und die Schaffhauser Weber Schwesterzünfte, dies auch, weil sich beide mit der Materie Stoff befassen. «Die Tuchige und Filzige», sagt Narr.

Viele Gäste aus Schaffhausen

René Kalt, Zunftmeister der Waag, und Hans-Peter Narr pflegen schon länger den Kontakt und haben so auch den Grundstein für die Einladung des Kantons Schaffhausen gelegt. Es verwundert deshalb auch nicht, das auch weitere Vertreter des Webern-Vorstandes - Nationalrat Thomas Hurter, Christian Ritzmann, Dolf Burki, Roland E. Hofer, Thomas und Martin Harzenmoser sowie Edi Mittler - den Tag mit der «Waag» verbringen durften. Mit Regierungspräsidentin Rosmarie Widmer Gysel und Andreas Spillmann, Direktor des Schweizerischen Landesmuseums, hatte Zunftmeister René Kalt zwei illustre Ehrengäste eingeladen, doch dazu später. Nach dem Apéro auf dem Kirchturm ging es zurück ins 2004 herrlich renovierte Zunfthaus, das aus dem 14. Jahrhundert stammt und in all seinen Stuben und Sälen Historie atmet. Kurz vor 10 Uhr sind auch die übrigen Zünfter in ihren Biedermeier-Hutmacherkostümen eingetroffen, das «Waag»-Zunftspiel - die Musikkapelle - spielt auf, Festatmosphäre. Damit man für den Umzug am Nachmittag bereit ist, wird das Mittagessen auf der Zunftstube bereits um 11 Uhr eingenommen. Weil Plätze auf der Stube heissbegehrt sind, ist der historische Saal mit den Butzenscheiben bis auf den letzten Platz gefüllt, Zunftmeister Narr sitzt dem Hausherrn gegenüber - ein Ehrenplatz. Es gibt Schaffhauser Bölletünne, Kalbshaxe mit Safranrisotto, dazu wird Steiner Goldsiegel ausgeschenkt, zum Dessert gibts Schoggimousse. Doch die deftigste Portion geht nicht in den Mund, sondern kommt aus demselben: Der Tradition folgend begrüsst Zunftmeister Kalt die Gäste auf der Stube und spickte seine unterhaltsame Rede mit freundlich-geistreichen Seitenhieben - auch das gehört zum Prozedere. Eigens dafür wurden nahe Angehörige der Gäste ausgehorcht und um pikante Details angegangen. Und diese waren auskunftsfreudig: Von Problemen bei der Unterscheidung von links und rechts (Widmer Gysel) war da die Rede, von Startschwierigkeiten bei der Schauspielkarriere (Spillmann), und man erfuhr, dass im Hause Hurter an Weihnachten nicht weniger als 25 Kisten voll Christbaumschmuck ausgepackt werden. Gnädig ging man mit Hans-Peter Narr («Obernetzwerker von Schaffhausen») um. Es ist ebenfalls gute Tradition, dass auch die Angesprochenen - nachdem Kaffee und Schnapps serviert worden waren - die Gelegenheit bekommen, auf die Freundlichkeiten zu antworten. Und man kann sagen: Sie blieben ihrem Gastgeber nichts schuldig. Diese Art des rhetorischen Wettstreites gehört zum festen Ablauf auf den Zunftstuben und wird von allen Beteiligten aufmerksam verfolgt: Alle - auch jene, die sonst aus Platzgründen in einem anderen Raum essen - versammeln sich dafür auf der Stube. Und wer besonders geschickt auf die Vorrede reagiert, erntet nicht nur reichlich Lacher, sondern auch Ruhm. So wurde denn gestern auf der Waag-Stube herzlich und viel gelacht, und schliesslich jeweils mit dem Zunftmeister angestossen, während draussen die verschiedenen Zunftspiele mit Marschmusik den bevorstehenden Umzug ankündigten. Versorgt wurden die Zünfter und ihre Gäste einerseits vom Team des im Zunfthaus untergebrachten Gastronomiebetriebes, andererseits von Mundschenken: Jugendliche aus dem näheren Umfeld der Zunft, die ebenfalls in Kostümen mit Weinkannen über die Flure laufen und sich ihre Zunft-Sporen abverdienen. Klar, dass der eine oder andere später einmal die Aufnahme in eine Zunft anpeilt, verhilft die Zugehörigkeit doch noch immer zu einem exzellenten Netzwerk, das einem immer wieder hilfreich sein kann. Zünfter - oder wie die Zürcher sagen - «Zöifter» wird man aber nicht so ohne weiteres. Eine familiäre Verbindung ist noch immer der klassischste Weg in eine Zunft, doch das allein reicht nicht. Wer dazugehören will, muss auch ein zweistufiges System durchlaufen: Ein Jahr lang ist man Anwärter, ein zweites Kandidat. Dann erst kann man Vollmitglied werden. In der Zunftstube hat sich inzwischen der Stubenmeister mit seiner Glocke Gehör verschafft und mahnt zum Aufbruch: Es ist Zeit, sich für den Umzug aufzustellen, die Gäste, die ohne Kostüme erschienen sind, erhalten einen Hut und ein Cape mit dem Zunft-Emblem. Auch die Zugordnung - die Aufstellung - ist genau festgelegt: Erst der übergrosse Hut, das Markenzeichen der Zunft, dann die Kindergruppe, gefolgt vom Zunftspiel. Dann der Zunftmeister mit seinen Ehrengästen, dahinter der Rest der Zünfter.

Erst in den Warteraum

Gleich neben Zunftmeister Kalt darf auch Hans-Peter Narr den Umzug abschreiten, doch bevor es so weit ist, müssen sich die Zünfter noch gedulden: Über den Paradeplatz geht es zum vorgesehenen Warteraum, dort heisst es erst einmal warten. Die grauen Hüte schützen ihre Träger vor Regen und Sonne, dennoch sind alle froh, als es losgeht. Das herrliche Wetter hat viel Publikum angelockt: Bereits am Anfang der Route stehen die Zuschauer mehrere Reihen tief, auch viele Schaffhauser sind nach Zürich gekommen und verfolgen den Umzug. 50 Minuten benötigen die einzelnen Gruppen für die Strecke zum Sechseläutenplatz. Unterwegs erhalten die Umzugsteilnehmer Blumen, ein Indikator für deren Beliebtheit, wobei manch einer vorsorgt und seine Lieben entlang der Streck postiert. Hans-Peter Narr hat rasch einen Strauss in Händen, schüttelt Hände. Die Ehrengäste und die Schaffhauser Zünfter geniessen den Auftritt sichtlich, denn von einer solchen Kulisse können sie in Schaffhausen nur träumen. Als man beim Zunfthaus zur Waag vorbeikommt, winken Frauen mit weissen Lappen aus den Fenstern, die Hände der Zünfter gehen in die Höhe, man winkt zurück. Auch das eine Eigenart der Waag, auch das eine Tradition. Schliesslich erreicht man den Böögg. Hans-Peter Narr hat alle seine Blumen bereits wieder an Zuschauerinnen verteilt, jetzt sind die Mundschenke wieder gefragt, die Wein und Mineralwasser anbieten, während man auf das Entzünden des Feuers wartet. Regierungspräsidentin Rosmarie Widmer Gysel darf diese ehrenvolle Aufgabe übernehmen. Bereits kurz nachdem der Böögg sich in kleinsten Fetzen auf den Platz und die Zuschauer verteilt, stellt sich das Zunftspiel der Waag wieder auf: Es geht wieder zurück ins Zunfthaus, dort wartet bereits das Abendessen. Denn für viele Zünfter kommt jetzt erst das Highlight des Tages: Nach dem Abendessen finden Auszüge statt. Mit Laternen besucht man die Stuben anderer Zünfte nach einem bereits festgelegten Plan, das kann bis in die Nacht oder die frühen Morgenstunden dauern. Auch dort wird man sich dann wieder im rhetorischen Duell messen, dann allerdings ohne Vorlaufzeit: Die Antwort muss sogleich erfolgen - hier zeigt sich der wahre Meister.

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