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«Diese Sichtweise ist mir zu einseitig»

Schaffhauser Nachrichten, 02.11.2012 von Interview Zeno Geisseler und Doris Kleck

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Vom Steuerstreit mit der EU ist der Kanton Schaffhausen ganz besonders betroffen. Finanzdirektorin Rosmarie Widmer Gysel sagt, ob es einen Ausweg gibt.

 

Frau Regierungsrätin, die Spezialgesellschaften im Kanton beschäftigen rund 3000 Arbeitnehmer und zahlen 50 bis 60 Millionen Franken Steuern an Kanton und Gemeinden. Viele dieser Firmen sind nicht zuletzt deshalb nach Schaffhausen gezogen, weil das steuerliche Umfeld attraktiv ist. Nun stehen sie im Mittelpunkt eines Steuerstreits mit der EU. Warum?

Rosmarie Widmer Gysel: Kurz gesagt, denkt die EU, dass die Besteuerung dieser Gesellschaftsformen gegen das gültige Freihandelsabkommen verstösst und eine unerlaubte staatliche Beihilfe darstellt. (Siehe Kasten, Red.)

Hat die EU recht?

Widmer Gysel: Wir, die Kantone und der Bund, sind der Ansicht, dass das Freihandelsabkommen nicht auf die kantonalen Steuerregimes anwendbar ist. Somit kann auch nicht die Rede sein von unerlaubten staatlichen Beihilfen.

Die Schweiz ist nicht Teil der EU. Kann die EU uns dann überhaupt vorschreiben, wie wir unsere Steuern gestalten?

Widmer Gysel: Dies ist ein wesent- licher Punkt. Die Schweiz nimmt am europäischen Binnenmarkt teil, und es bestehen nun zwischen der EU und der Schweiz unterschiedliche Ansichten, ob und in welchem Umfang die EU-Wettbewerbsregeln bei uns zum Tragen kommen. Die Schweiz war bisher der Ansicht, dass sie bei ihrer Unternehmensbesteuerung bleiben kann.

Betrifft dieses Problem alle Kantone?

Widmer Gysel: Ja, es gibt aber grosse Unterschiede bei den konkreten Auswirkungen. Schaffhausen gehört neben Zug und Basel zu den exponiertesten Kantonen.

Warum?

Widmer Gysel: Es gibt rund 350 Spezialgesellschaften im Kanton. Diese haben sich in den letzten Jahren gut entwickelt. Der Kanton erhält von ihnen rund 40 Prozent der gesamten Steuereinnahmen von juristischen Personen. Sogar rund 80 Prozent unseres Anteils an der direkten Bundessteuer stammen von Holding- und Verwaltungsgesellschaften. Dies sind sehr grosse Anteile.

Nun hat aber die Wirtschaftsförderung solche neuen Firmen bewusst mit dem Steuerargument in den Kanton geholt. Hat man sich so ein Klumpenrisiko eingehandelt?

Widmer Gysel: Diese Sichtweise ist mir zu einseitig. Jede grosse Ansiedlung und jeder grosse Steuerzahler ist ja in einem gewissen Sinn ein Klumpenrisiko – wenn die Firma aus irgendeinem Grund wieder ginge, würden wir viele Arbeitsplätze und Steuereinnahmen verlieren. Aber auf der anderen Seite profitieren wir von diesen Unternehmen ja sehr stark, wie die Zunahme der Arbeitsplätze zeigte, und diese Vorteile überwiegen.

Der Steuerstreit mit der EU schwelt ja schon länger. Hat er sich nun noch verschärft?

Widmer Gysel: Ja. Die grossen finanziellen Schwierigkeiten im EU-Raum haben dazu geführt, dass alle möglichen und unmöglichen Geldquellen erschlossen werden sollen. Der Druck auf uns hat stark zugenommen.

Sie haben gesagt, Schaffhausen sei sehr viel stärker exponiert als andere Kantone. Wie gross ist da bei den anderen Kantonen überhaupt das Interesse, in dieser Frage tätig zu werden?

Widmer Gysel: Die Steuerregimes sind sehr ähnlich, unterschiedlich sind die Steuersätze und der Anteil von den problematischeren Spezialgesellschaften bei den juristischen Personen. Selbstverständlich engagieren sich die besonders betroffenen Kantone etwas stärker. Wir haben unter anderem dazu beigetragen, dass der Steuerstreit an der Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren zur Sprache kam. Wir haben deutlich gemacht, dass eine integrale Übernahme der EU-Richtlinien kein Thema sein darf.

Wie könnte die Lösung aussehen?

Widmer Gysel: Ein Ansatz wäre, dass die für alle Unternehmen hohe Bundessteuer gesenkt würde. Massgebend ist ja nicht einfach die Kantons- und Gemeindesteuer, sondern die gesamte Steuerbelastung. Davon würden alle Kantone und alle Unternehmen profitieren. Allerdings ist klar, dass uns der Bund angesichts der derzeitigen Sparziele diesen Gefallen nicht tun wird.

Was kann der Kanton Schaffhausen stattdessen unternehmen?

Widmer Gysel: Es gibt verschiedene Ansätze. Wir könnten ganz generell die kantonalen Unternehmenssteuern senken, was aber gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich nicht leicht umzusetzen ist. Alternativ könnten wir zum Beispiel sogenannte Box-Modelle einführen. Bestimmte Erträge wie Lizenz- oder Zinszahlungen könnten in einem gewissen Umfang von einer Besteuerung freigestellt werden. Nidwalden hat ein solches Modell bereits eingeführt.

Aber ist es der EU letztlich nicht einerlei, mit welchem Modell wir den Unternehmen steuerliche Vorteile gewähren, unter welchem Namen auch immer?

Widmer Gysel: Mag sein. Aber Länder wie die Niederlande oder Irland kennen ähnliche Modelle, und sie sind Mitglied der EU. Ich sage auch nicht, dass die Lizenzbox die Lösung ist. Aber sie ist ein Ansatz, den wir detailliert analysieren müssen: Welche Auswirkungen haben diese Modelle für die Unternehmen? Welche Folgen haben sie für die Staatskasse?

Wer beantwortet bei uns im Kanton diese Fragen?

Widmer Gysel: Wir haben bereits im vergangenen Jahr eine Arbeitsgruppe unter der Leitung der Steuerverwaltung eingesetzt. Die Wirtschaftsförderung ist dabei, aber auch externe Experten von internationalen Steuerberatungsfirmen.

Wie weit ist diese Arbeitsgruppe? Ist eine Lösung in Sicht?

Widmer Gysel: Dafür ist es zu früh. Wir tragen derzeit alle Informationen zusammen, wir sprechen aber auch mit betroffenen Unternehmen. Dieser Prozess ist sehr arbeits- und zeitintensiv. Im Sommer will die Arbeitsgruppe erste Resultate vorlegen Gestützt darauf muss entschieden werden, ob es zur Erhaltung der Standortattraktivität und zur Vermeidung eines Abflusses von Steuersubstrat eine Revision des Steuergesetzes braucht. Entscheidend wird schliesslich sein, welche Spielräume nach den Verhandlungen mit der EU bestehen, wenn es zu einem Steuerabkommen kommt, und welche Übergangsfristen bestehen.

Wie lange haben wir Zeit, um zu einem neuen Modell zu wechseln?

Widmer Gysel: Die EU und der Bund wollen bis zum 30. Juni zu einer Lösung kommen. Wir gehen aber davon aus, dass es mehrjährige Übergangsfristen geben wird. Wir müssen sicher vorwärtsmachen, aber wir müssen nicht überstürzt eine Lösung finden.

Wie reagieren die Firmen auf den Steuerstreit? Gibt es solche, die sich überlegen wegzuziehen?

Widmer Gysel: Die grossen internationalen Konzerne beobachten die Situation natürlich sehr genau. Dies ist aber nichts Aussergewöhnliches. Es ist Teil ihrer strategischen Analyse, dass sie sich fragen, ob sie noch am richtigen Ort sind. Die Steuerverwaltung, die Wirtschaftsförderung und auch der Regierungsrat sind im permanenten Dialog mit den Firmen und werden alles daransetzen, dass gemeinsam für alle Seiten befriedigende Lösungen gefunden werden können.

Frau Regierungsrätin, besten Dank für dieses Gespräch.

 

Im Visier: Diese Regimes will die EU weghaben

Gemischte Gesellschaft Diesen Steuerstatus erhalten Firmen, wenn sie den massgebliche Teil ihrer Geschäftstätigkeit im Ausland ausüben und der Teil der schweizerischen Geschäftstätigkeit von untergeordneter Bedeutung (höchstens 20 Prozent des gesamten Geschäftsvolumens) ist. Die inländischen Erträge werden normal besteuert. Von den ausländischen Erträge werden lediglich 10 bis 20 Prozent besteuert, je nach Umfang der Verwaltungstätigkeit in der Schweiz.

Domizilgesellschaft Diese Firmen üben in der Schweiz keine Geschäftstätigkeit aus, sondern nehmen nur Verwaltungsfunktionen wahr, dazu gehört insbesondere die Verwaltung des eigenen Vermögens. Hilfstätigkeiten wie die Verwertung immaterieller Rechte, die Vermittlung von Know-how sowie Fakturierung und Inkasso. Domizilgesellschaften – auch Briefkastenfirmen genannt – dürfen in der Schweiz kein eigenes Personal beschäftigen und keine Infrastruktur unterhalten.

Holdinggesellschaft Diese Firmen halten und verwalten Beteiligungen, sonstige Geschäftstätigkeiten sind ihnen in der Schweiz untersagt. Damit die Gewinne nicht auf Stufe der einzelnen Beteiligungen und auf der Stufe der Holding besteuert werden, haben die Kantone Holdinggesellschaften in der Regel von der Gewinnsteuer befreit. Auf Bundesebene werden Holdings normal besteuert.

 

Der Steuerstreit Die EU erwartet bis zum Juni Fortschritte im Dialog über die kantonalen Steuerpraktiken

Der Steuerstreit zwischen der Schweiz und der EU ist schon älteren Datums: Bereits 2007 hatte die EU-Kommission gewisse kantonale Besteuerungsmodalitäten als unerlaubte staatliche Beihilfe kritisiert. Diese würden den Wettbewerb verfälschen und das Freihandelsabkommen aus dem Jahre 1972 verletzen – diese Argumentation hat der Bundesrat stets abgelehnt. Die EU stört sich insbesondere an der steuerlichen Ungleichbehandlung in- und ausländischer Erträge von Holding-, Verwaltungs- und gemischten Gesellschaften in einzelnen Kantonen (siehe Kasten oben rechts auf dieser Seite). 2009 hatte der Bundesrat der EU einen Kompromissvorschlag unterbreitet, dieser scheiterte aber an der Uneinigkeit der EU-Staaten.

Inzwischen hat die EU die Freihandelsschiene verlassen und will mit der Schweiz stattdessen über den EU-Verhaltenskodex zur Unternehmensbesteuerung reden. Im Juni 2010 hatten die EU-Finanzminister die EU-Kommission mit solchen Verhandlungen beauftragt. Beim Verhaltenskodex handelt es sich um ein «Gentlemen’s Agreement», um diskriminierende und schädliche Praktiken bei der Unternehmenssteuerung zu beseitigen. Die Schweiz hat es bis heute stets abgelehnt, den EU-Verhaltenskodex pauschal zu übernehmen. Allerdings ist Bern bereit, über die kritisierten Steuerregimes der Kantone zu reden. Die eidgenössische Finanzdirektoren haben Ende Januar dem Bundesrat grünes Licht für einen neuen Steuerdialog gegeben. Die EU hat der Schweiz dazu ein Ultimatum gestellt: Sie erwartet bis Ende Juni dieses Jahres Fortschritte im Steuerstreit. Brisant ist die Ausgangslage für die Kantone deshalb, weil der Bund über ihre Steuermodelle mit der EU diskutiert. Auf Bundesebene ist man sich dessen bewusst, so existiert seit Längerem eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Bund und Kantonen, die nach Lösungen sucht. Wenig Freude haben die Kantone aber daran, dass der Bundesrat bei den Verhandlungen mit der EU in verschiedenen Dossiers einen «gesamtheitlich koordinierten Ansatz» verfolgt. Will heissen, die Kantone befürchten, dass der Bundesrat bereit ist, bei den kantonalen Steuerregimes Konzessionen einzugehen, um in anderen Dossiers, beispielsweise beim Strom, vorwärtszukommen. Allerdings haben mittlerweile einzelne Kantone begonnen, in eigener Regie ihre Steuerregimes EU-kompatibel zu gestalten. So hat der Kanton Neuenburg die Unternehmenssteuern auf einen einheitlich tiefen Zinssatz gesenkt , und der Kanton Nidwalden hat die sogenannte Lizenzbox eingeführt. Schaffhausen hat, als besonders exponierter Kanton, eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um Alternativen zum heutigen Steuerregime zu überprüfen. Betroffen vom Druck der EU sind aber nicht nur die Kantone, sondern auch die Gemeinden. Das lässt die kommunale Politik aufhorchen. Grossstadtrat Till Hardmeier (JF) hat diese Woche eine kleine Anfrage zum Thema eingereicht: «Angriff der EU – Was macht die Stadt Schaffhausen?» Er möchte wissen, wie gross die erwarteten finanziellen Auswirkungen auf die Stadt Schaffhausen sind, wenn sich die Besteuerungsform der gemischten Gesellschaft verschlechtert oder wegfällt. Was für Massnahmen der Stadtrat plant, um die finanziellen Auswirkungen zu verkraften und um seine Interessen in der Sache zu vertreten.

Originalbericht SN

http://www2.shn.ch/index.php?page=archivdetail&rub=news&detail=326619